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Der Verschollene

Mein Vater hatte mehrere Brüder, von denen einer unter seltsamen Umständen verloren ging. Das war der Gerry. Gegen 1950 als junger Mann bekam er Streit mit seinem Vater. Er verließ das Elternhaus und ging nach England. Sein Vater bereute später den Streit und schickte meinen Vater, der jünger war als Gerry und gut mit diesem auskam, nach London um eine Versöhnung zu erwirken. Gerry willigte ein. An einem bestimmten Tag reiste auch Großvater nach London. Die drei waren in irgendeinem Restaurant in der Stadt verabredet. Doch Gerry erschien nicht. Anschliessend konnte mein Vater ihn an seiner Kontaktadresse in London nicht mehr erreichen. Gerry verschwand spurlos.

Großvater trauerte um seinen verlorenen Sohn und als er älter wurde, machte er wiederholte Versuche, ihn zu finden. Er bezahlte Inserate in Zeitungen in England und Amerika und setzte sogar Privatdetektive ein, um Gerry ausfindig zu machen. Aber alles blieb erfolglos und Großvater starb 1961, ohne das ersehnte Wiedersehen mit seinem verlorenen Sohn erlebt zu haben.

Viele Jahre später sah ein Familienfreund per Zufall eine Todesanzeige in einer australischen Zeitung. Es handelte sich um Gerry. Anscheinend hatte er dort als Soldat gedient, und später sein Leben als Taxifahrer bestritten. Der Arme hatte es offensichtlich im Leben zu nichts gebracht. Er war unverheiratet und starb allein.

Ich hatte auch einen Vetter in Toronto, der sehr intelligent aber Legastheniker war. Auch er lebte am Rande der Gesellschaft und brachte es zu nichts. Ich mochte ihn gerne und traf ihn jedes Mal, wenn ich in Toronto war. Später wurde er geisteskrank und die Familie versuchte, ihn einsperren zu lassen. Das führte zum endgültigen Bruch. Noch lebt er ein Schattendasein irgendwo in Toronto. Niemand hat Kontakt zu ihm.

Es kommt vor, dass eine Familie gut funktioniert, einer von den Geschwistern aber irgendwie nicht zum Gesamtbild passt. Er übernimmt die Rolle des Schattens oder des Widersachers in der Familie. Früher oder später kommt es zu einem Bruch. Doch der Abtrünnige findet kein Happy End. Er ist von der Familie ausgeschlossen, findet aber selber keinen anderen menschlichen Anschluss. Er bleibt verschollen.